Samstag, 10. Oktober 2009

Kaleidoskop der Street Art: Rezension von „Street Art. Legenden zur Straße“ (Archiv der Jugendkulturen, 2009)

Ein Kaleidoskop der Street Art
Rezension von „Street Art. Legenden zur Straße“, Archiv der Jugendkulturen, 2009

Street Art. Illegal, subversiv, kommunikativ, politisch. Selbstverliebt, aufdringlich, integriert.
Unzählige Bücher über Street Art - meist Bildbände - sind seit der Ausbreitung dieses neuen künstlerisch-aktivistischen Phänomens auf Wänden, Mauern, Straßenschildern, Stromkästen und Regenrinnen der großen wie kleinen globalisierten Innenstädte in den letzten Jahren veröffentlicht worden.
Karin Klitzke und Christian Schmidt haben sich mit der Herausgabe von „Street Art. Legenden zur Straße“ das hohe Ziel gesetzt, im Gegensatz zu allen bisherigen Veröffentlichungen eine Vielzahl theoretischer Überlegungen zu einer differenzierten Betrachtungsweise von Street Art zusammenzubringen. Das „publizistische Kaleidoskop“, das sie damit geschaffen haben, kann sich (durch)sehen und vor allem lesen lassen:
Viele schöne Fotos, Sequenzen, Bildstudien, Collagen und eigene Textbeiträge von (größtenteils Berliner) Street Artists, die ihre Motivationen erläutern und spezifische Schwierigkeiten dieser künstlerischen Arbeit berichten. Dazu umfangreichere Texte in denen Street Art aus Sicht der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft, der Geographie, Soziologie, Philosophie, Ethnologie, Kulturwissenschaften, Architektur, Politikwissenschaften... betrachtet, bewertet, gedeutet, erklärt wird. Dabei werden Legenden erzählt vom Wirken der Street Art-AktivistInnen auf der Straße und es werden Legenden im Sinne von Erklärungs- und Deutungsmustern zum Verständnis dieses kulturellen Schaffens angeboten - und können damit durchaus auch bei „alten Fans“ neue Sichtweisen auf Street Art ermöglichen.

Entsprechend der Vielfältigkeit von Street Art spannt sich die Gattung der Texte von Reiseberichten in Form von Postkarten, über Erzählungen, eine Liebeserklärung an die Vergänglichkeit von Kunst auf der Straße und einem Musical-Drehbuch bis zu den wissenschaftlichen Essays. Darin wird dem Verhältnis von Street Art zum etablierten Kunstbetrieb nachgegangen und überlegt, inwieweit Street Art eine neue Stufe der Kunst einleitet, es wird an die Wand als ältestes Massenmedium der Menschheitsgeschichte erinnert (Kratzzeichnungen sind schon lange Spuren und Ausdrucksform der einfachen Leute gewesen) und auf die kulturhistorische Figur des „Spaziergängers“ als Vorraussetzung für die Entstehung von Street Art hingewiesen. Betont wird, dass Street Art von Kommunikation und Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort und seiner Umgebung, der Straße und dem Alltag lebt und daher im Ausstellungsraum „White Cube“ so nicht bzw. nur anders funktionieren kann.
Hingegen kann Street Art gerade im Alltag im besten Sinne neuartige und abweichende Situationen und Erleben schaffen. Inwieweit Street Art allerdings tatsächlich eine „ständige Gefahr für das Ordnungssystem der herrschenden Zeichen innerhalb der Stadt“ darstellt, oder ob die Repression gegen Street Artists nicht primär in der damit begangenen Sachbeschädigung an „fremdem Eigentum“ zu Suchen ist (was zweifelsfrei zentraler Bestandteil des kapitalistischen Systems ist und daher auch nach Sanktionierung schreit), mag in der Absolutheit dieses Anspruches der Subversivität von Street Art dann doch auch bezweifelt werden.
Differenzierter und nüchterner nennt Christian Schmidt drei Ebenen, auf denen Street Art politisch wirksam werden kann: Durch Aneignung und Umdeutung wird in Form von Street Art Selbstermächtigung in der Mitgestaltung des öffentlichen Raums direkt umgesetzt. Über inhaltliche Aussagen von Street Art, seien sie explizit, durch den Kontext der Installation oder durch subversiv-interpretationsoffene Botschaften, wird Position bezogen. Und schließlich ist Street Art durch die davon ausgehende Anregung zum Selber- und Mitmachen fähig, Kommunikation und weitere künstlerisch-aktivistische Interventionen anzustoßen, und damit alternative Kommunikationskanäle zu öffnen. Gleichzeitig bleibt diese Subversion hoch widersprüchlich, denn sie wird leicht integriert und umgedeutet in sozioökonomischen Prozessen des „Differenzkapitalismus“ und der „unternehmerischen Stadt“ und trägt somit auch ihren Teil beispielsweise zur Attraktivitätssteigerung und Umgestaltung ehemals ökonomisch uninteressanter Stadtteile bei, die im Zuge der Aufwertung ihren Charakter, ihre ursprünglichen BewohnerInnen und schließlich auch (wieder) ihre Street Art verlieren.
„Will Street Art kritisch und interventionistisch wirken, so sollte sie jedoch genau diesen Widerspruch stets aufs Neue sichtbar machen und problematisieren. Ansätze dafür gibt es immer wieder und gerade dann, wenn die Posters, Stickers und Stencils beispielsweise jene Viertel verlassen, für die sie typisch sind und dadurch eher als unkalkulierbar, als verstörend und letztlich als symbolische Bedrohung wahrgenommen werden können.“
Dass Street Art inzwischen schon längst nicht mehr nur in gentrifizierten Großstadtvierteln vorkommt, sondern auch in der sauberen oberschwäbischen Kleinstadt, und was das hinsichtlich ihres subversiven Potentials bedeutet, wird in dem insgesamt sehr berlinfixierten Buch leider nicht mitreflektiert.

„Street Art. Legenden zur Straße“ betrachtet Street Art aus „Fanperspektive“, wobei auch kritische Überlegungen Raum finden, so schreibt Jens Thomas: „Graffiti und Street Art zeugen von Vereinzelungsprozessen in einer Mitteilungswelt, und ohne diese Erscheinungen gäbe es diese Zeichen nicht einmal, zumindest nicht in ihrer Ästhetik“. In den wissenschaftlichen Texten ergeben sich immer wieder ähnliche theoretische Erklärungen und Analysen – es wird verwiesen auf Dada, die Situationisten und die Kommunikationsguerilla (die ja selbst nur ein buntes Sammelsurium ist und aus Verweisen besteht) - jedoch haben alle Texte im besten Sinne eines bunten Kaleidoskops ihre besondere Konstellation und werfen ein eigenes Licht auf die Tags, Pieces, Stickers, Plakate, Stencils, Scherenschnitte und verschiedensten Objekte der Street Art und ihren Ausstellungsraum Straße.

Marc Amann


Katrin Klitzke / Christian Schmidt (Hrsg.): Street Art. Legenden zur Straße, Verlag "Archiv der Jugendkulturen", August 2009, 226 Seiten, Großformat 196 x 249, ca. 300 durchgängig farbige Abbildungen, gebunden, 28,- €, ISBN 978-3-940213-44-0

Blog zum Buch: http://streetartlegenden.blogspot.com

In der Rezension auf Rebel Art findet sich am Ende das Inhaltsverzeichnis aus dem Vorwort: http://www.rebelart.net/diary/?p=1953

Der Beitrag von Christian Schmidt „Street Art - Zeichen der Zeit“ findet sich komplett hier:
http://www.jugendkulturen.de/pics/downloads/streetart2/STREETART_christianschmidt.pdf

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